Mittwoch, 2. September 2015

Was wäre wenn... zum Thema "Flüchtlinge"

 

Meine Nachbarn wurden aus ihrer Wohnung abgeholt. Ich habe Schreie gehört. Dann Schüsse. 


Der 16- jährige Sohn wehrte sich. Ich beobachtete die Szenerie aus dem Fenster, sah einen Mannschaftswagen, die Familie, es war Vollmond. Noch ein Schuss. Der Junge sackt zusammen, schnell, lautlos- er wird gepackt und auf den Wagen geworfen, die Mutter beginnt zu schreien. Immer lauter, hysterisch. Sie wird zu Boden geschlagen. Stille.

Der Abtransport beginnt. Meine Nachbarn haben sich in den letzten Monaten immer lauter für die Menschenwürde und gegen die neue Regierung eingesetzt. Die 22 jährige Tochter betrieb einen erfolgreichen Blog, in dem sie auf die Zusammenhänge zwischen einer politisch geforderten Steigerung der Wirtschaft und der daraus resultierenden und immer größer werdenden "Arm- Reich- Schiene" aufmerksam machte. Sie versuchte erfolgreich durch Aufklärung die Bevölkerung aufzurütteln.

Als Teil eines immer größer werdenden Netzwerkes gehörte sie zu den Mitverursachern der größten Protestbewegungen der letzten 30 Jahre. Doch in den letzten Monaten spitzten sich die Umstände zu. Die Proteste verliefen blutig, Demonstrationen wurden verboten, die Masse sollte klein gehalten werden. Doch es war zu spät. Der Staat sah sich gezwungen, die öffentlichen Netzwerke zu kontrollieren. Dann die erste Zensur. Journalisten wurden verhaftet. Es wurde innerhalb von 2 Monaten so dramatisch, dass sich Befürworter und Gegner auf offener Straße bekämpften. Die Menschen hatten Angst. Ausgangssperren wurden verhängt, die Geschäfte waren tageweise einfach zu. Lebensmittel wurden rar, waren nicht mehr täglich verfügbar.

Und dann beobachtete ich hinter meinem Fenster diese Szenen. Vor ein paar Monaten war doch noch alles in Ordnung. Ich hatte nur eine Möglichkeit: "Ich muss hier weg", wir mussten weg. Sofort. Am Besten noch heute Nacht. Wenn die zu mir kommen, bin ich die nächste. Seit ein paar Tagen fühlte ich mich bereits beobachtet, ausspioniert. Und leise oder auf der Seite der Regierung war ich in den letzten Jahren nicht.

Ich weckte meinen Mann, flüsterte, dass Thorben tot sei und dass alle anderen abgeholt wurden. Wir müssten weg hier. Glasklare Gedanken zwischen dem Schock. Eingepackt wurde das nötigste, Mobiltelefon, ein paar Kleidungsfetzen, Bargeld, Schmuck, etwas zu essen. Nicht zu viel, aber das wichtigste und wertvollste. Am schwersten war es, zum letzten Mal die Wohnung zu verlassen. Mit einem Ziel, welches wir noch nicht kannten, Hauptsache Leben, frei sein.

Wir flohen mit dem Auto in die Niederlande. Dorthin fliehen die Deutschen seit ein paar Wochen. Es ist vom Ruhrgebiet aus das am schnellsten zu erreichende Ausland. Durch Sarah, die Bloggerin, hatten wir gehört, dass sie dort Zeltstädte errichtet haben, weil immer mehr von uns kamen. Die Grenzen wurden mittlerweile von unserer neuen Regierung kontrolliert. Menschen, die politisch verfolgt wurden, sollten nicht so einfach gehen können. Die EU kritisierte das Vorgehen zwar scharf, doch es gab in Europa zu viele, die von Deutschland abhängig waren. Die Niederlande hingegen erinnerten sich an den 2. Weltkrieg und halfen, wo sie konnten. "Des deutschen Feind ist unser Freund" hörte man hinter vorgehaltener Hand.

Kurz vor der Grenze mussten wir zu Fuß weiter, schlichen uns nahe Winterswijk durch einen Wald. In der Ferne hörten wir Schreie. Und wieder Schüsse. Wir rannten so schnell und leise wir konnten. Geschafft, die Grenze lag hinter uns. Doch die nächsten 30 km hielten wir uns noch versteckt, mieden offene Straßen bis zum ersten Ort. Die Füße brannten bei jedem Schritt, ich spürte, dass sie voller Blasen sein würden. Im Ort fanden wir eine Tankstelle und erkundigten uns nach dem Weg. Die nächste Zeltstadt ist ca. 10 km von hier, diese Richtung. Der Tankwart sah uns mitleidig an und gab uns ein Glas Wasser.

Das letzte Stück war die Hölle. Ich dachte an meine Großeltern, die 2000 km zu Fuß gegangen sind- bei mir waren es knapp über 40 und ich fühlte mich schwach, krank, müde. Dachte an unsere Wohnung, mein zu Hause, spürte meine Tränen. Wir schliefen unter freiem Himmel, zu erschöpft um weiter zu gehen. Die Bilder von Thorben schossen mir durch den Kopf. Bilder, die wohl nie verblassen werden, das waren mehr als Nachbarn- heute weiß ich es, das waren Freunde. Am nächsten Morgen liefen wir weiter. Unsere Füße bluteten. In der Nacht hatte es geregnet und die Temperaturen lagen bei ca. 8°C. Uns war kalt. "Durchhalten"- weiter gehen- Schritt für Schritt. Dann sah mein Mann den Zaun. Da war sie.

Die Zeltstadt. Wir wurden notdürftig mit ein wenig Verbandmaterial und einer heißen Suppe mit Brot versorgt. Uns wurde ein Schlafplatz zugewiesen. Auf einem kopierten Zettel befand sich der Plan der Zeltstadt. Es sei sehr voll, wir müssten uns eine Pritsche teilen. Und dass wir nicht bleiben könnten, doch das war uns klar. Zwischenlager, das erste. Enge, so viele Tränen. Die europäischen Länder gewährten uns zwar ein kurzfristiges Asyl, doch behalten wollte uns keiner. Von der Zeltstadt aus geht es meist binnen ein, zwei Wochen weiter Richtung Amsterdam.

Von dort aus auf Containerschiffen über Island nach Grönland. Hier werden wir noch angenommen und haben durch den Tourismusausbau und die Klimaerwärmung die Chance auf eine neue Zukunft. Wir müssen mit anpacken und können dort etwas Neues erschaffen.
Übermorgen soll unser Schiff ablegen. Ich spüre in mir so viel Angst, so viel Wut, eine tiefe Trauer... und...
ein ganz kleines bisschen Hoffnung.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig. 
Flucht kann jeden treffen!

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